Es wird sich zeigen, dass die Bergpredigt eigentlich weniger eine Predigt als vielmehr eine Lehre ist. Neuzeitliche Auslegungen betonen zu Recht ihren jüdischen Hintergrund, ihre Einbettung in jüdische Schriftauslegung. Jesus war Jude und seine Theologie, seine Lehre, haben deshalb durchaus ein “jüdisches Profil” (Wengst, a.a.O. S. 22). Man kann die Bergpredigt oder -lehre verstehen als Auslegung der Tora (des jüdischen Gesetzes) auf Jesus hin. Susanne Schmid führt im Vorwort ihrer Auslegung sogar pointiert aus, dass es im Neuen Testament eigentlich nicht um wesentlich Neues gehe. Das ist vielleicht in dieser Absolutheit etwas zu steil formuliert, aber ein Vergleich von Matthäus 3, 2 mit 4, 17 zeigt immerhin, dass der Anfang der Wirksamkeit von Jesus mit exakt den gleichen Worten zusammenfassend beschrieben wird wie die seines Vorläufers Johannes des Täufers, dass somit “Matthäus offenbar nicht der Meinung war, Jesus müsse in jeder Hinsicht originell gewesen sein.” (Wengst, a.a.O. S. 17)
Innerhalb des Matthäus-Evangeliums stellt die Bergpredigt eine erste von insgesamt fünf Redeeinheiten dar. Es kann gut sein, dass die Bergpredigt dabei nicht quasi die Abschrift einer einzigen Rede von Jesus ist, sondern eine Sammlung von Thesen verschiedener Lehgespräche, die Jesus geführt hat.
Sie wird eingerahmt von zwei summarischen Zusammenfassungen 4, 23-25 und 9, 35, wo zum Teil wieder in fast wörtlichen Übereinstimmungen das Wirken von Jesus zusammengefasst wird. Es besteht im Wesentlichen aus den beiden Polen des Lehrens und des heilenden und helfenden Wirkens. Die Lehre wird dargelegt in den Kapiteln 5-7, also eben der Bergpredigt, während in Kapitel 8-9 Heilungsgeschichten berichtet werden. Beides, Lehren und Heilen wird beispielhaft und nicht abschliessend abgehandelt an diesen Stellen, aber zum Verkündigen des Evangeliums gehört beides dazu. Jesus ist also weder als abstrakter Theoretiker aufgetreten noch als bindungslos freischwebender Praktiker. Er war ein Messias (Retter) in Wort und Tat.
Eine wichtige Frage, welche die Christenheit jeder Generation wieder neu beschäftigt hat, ist die nach der Erfüllbarkeit ihrer Forderungen: Kann, was da von Jesus verlangt wird, von den Menschen erfüllt werden? Und wenn prinzipiell ja, von allen oder nur von bestimmten, von denen, die an Jesus glauben oder vielleicht unter ihnen auch nur von besonders “heiligen”? Oder stellt die Bergpredigt so etwas wie einen “Sündenspiegel” dar, der unsere Erlösungsbedürftigkeit herausstellen will? – Wir werden im Laufe der Auslegung bestimmt immer wieder mit dieser Frage konfrontiert werden. Grundsätzlich, im Sinne einer anfänglichen These, teile ich die Ansicht jener, die der Meinung sind, dass das, was Jesus lehrt, grundsätzlich auch getan werden soll und kann. Das legen nicht zuletzt die letzten Worte des auferstandenen Jesus vor seiner Himmelfahrt an seine Jünger nahe: “Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe.” Matthäus 28, 19-20a. Was er geboten hat, findet sich zu wesentlichen Teilen in der Bergpredigt. Dass dieses Tun nicht immer gelingt und wir zeitlebens auf Vergebung angewiesen bleiben, scheint mir auch klar. Das unterstreicht m.E. auch die Bitte um Vergebung im Unser-Vater-Gebet, welches im Zentrum der Bergpredigt steht.
Dass die Bergpredigt in erster Linie an die Jünger bzw. Schüler und Schülerinnen von Jesus und dann an die christliche Gemeinde gerichtet ist, wird wohl von wenigen bestritten. Mir scheint aber im Anschluss an namhafte Exegeten hier nicht nur eine “Binnenethik” vorzuliegen, sondern indirekt auch die “Welt” ausserhalb der Kirche im Blick zu sein. Wir werden dies im Einzelnen prüfen müssen.