Die Seligpreisungen VIII

Matthäus 5, 10

Glücklich zu preisen sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich.

Die Seligpreisung in Vers 10 markiert einen Übergang. Sie ist noch in der dritten Person formuliert, während Verse 11 und 12 in die zweite wechseln. Jedoch gehört sie, was den Inhalt betrifft, zu eben diesen folgenden Versen. Während die Seligpreisungen in den Versen 3-9 ein Verhalten beschreiben, so diese nun ein Erleiden. Präziser: Ein Erleiden, das resultiert aus dem vorher beschriebenen Verhalten. Auffällig ist zudem, dass der Nachsatz: “…denn ihnen gehört das Himmelreich” eine wörtliche Wiederholung aus Vers 3, der ersten Seligpreisung, ist.

Wengst zieht daraus folgende Schlüsse1):

  • Die beiden Nachsätze “…denn ihnen gehört das Himmelreich” bilden einen Rahmen, innerhalb dessen die Nachsätze der übrigen Seligpreisungen veranschaulichen, was unter dem Himmelreich zu verstehen ist:
  • Zu diesem Reich gehören bzw. Bürger darin sind jene, die das in den Vordersätzen beschriebene Verhalten praktizieren, d.h. demütig sind, sich nicht gleichgültig mit dem Unrecht in der Welt abfinden, Barmherzigkeit üben, aufrichtig sind, Frieden stiften, etc. .
  • Dieses Verhalten kann man unter dem Begriff “Gerechtigkeit”, der schon in Vers 6 aufgetaucht ist, zusammenfassen. Das Himmelreich ist demnach durch diese Gerechtigkeit charakterisiert.
  • Aufgeschlüsselt nach den Seligpreisungen bedeutet dies für jene, denen es zugesprochen wird: Getröstet und gesättigt werden, Erbarmen finden, das Land erben, mit Gott in einer ungetrübten Beziehung stehen.
  • Wer sich so verhält, wie in diesen Seligpreisungen beschrieben, kann (oder wird) Verfolgung von Menschen erfahren.

In seiner Predigt zu dieser Seligpreisung2) legt Lloyd-Jones Wert darauf, zu unterscheiden zwischen Verfolgung der Christen aus eigener Torheit, Ungeschicktheit, Fanatismus, etc. (das gibt es auch…) und der hier angesprochenen Verfolgung der Gerechtigkeit wegen. Was Gerechtigkeit und gerecht sein bedeuten, charakterisiert er nochmals anschaulich, kurz und bündig: Es bedeutet, so sein wie Jesus. Das wiederum zieht auch nach sich, was Jesus neben unserer Selipgreisung z.B. in Lukas 6, 26 seinen Nachfolgern in Aussicht gestellt hat: “Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden, denn so haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.”

Das stimmt schon nachdenklich, nicht wahr? – Wir möchten im allgemeinen gern, dass man gut über uns als Christen redet, dass wir gesellschaftlich anerkannt sind. Aber Jesus bewertet das anders. Er sagt seinen Nachfolgern, sie sollen sich freuen, wenn sie seinetwegen nicht nur nicht hochgeachtet, sondern sogar verfolgt werden.

1)Wengst, vgl. a.a.O., S.36; vgl. S. 52

2) Lloyd-Jones, a.a.O., S. 153ff

Die Seligpreisungen VII

Matthäus 5, 9

Glücklich zu preisen sind die, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

Bei dieser Seligpreisung ist der direkte Bezug zum Altent Testament etwas weniger deutlich als bei der voranstehenden. Immerhin findet sich in Psalm 34, 15 die Aufforderung: “Meide das Böse und tue das Gute, suche Frieden und jage ihm nach.” Auch in der rabbinischen Literatur hatte der Auftrag, Frieden zu stiften, einen prominenten Platz, so dass die Thematik für diejenigen, die Jesus damals zuhörten, vermutlich nicht fremd war.

Angesprochen sind die “Friedensstifter”, noch wörtlicher übersetzt die “Frieden Machenden”. Das in den älteren Lutherbibeln stehende “die Friedfertigen” ist missverständlich, weil es leicht mit einer passiven Haltung bzw. friedlichen Gesinnung (ein Hund, der nicht bellt und beisst) verbunden werden kann. Gemeint ist aber ein aktives Bemühen, es geht um Leute, “die zwischen verfeindeten und streitenden Menschen schlichten, sie miteinander versöhnen und so ein Zusammenleben im friedlichen Miteinander gestalten helfen.”1)  Luther selber hat die Stelle so verstanden: „Hier preist der Herr […] diejenigen, die sich darum  bemühen, dass sie gerne Frieden schaffen, nicht allein für sich, sondern auch unter anderen Leuten, dass sie helfen, böse und verworrene Angelegenheiten  zurechtzubringen, Hader zu beenden, Krieg und Blutvergießen zu wehren.“  Und er schliesst daraus „dass, wer ein Christ und Gottes Kind sein will, nicht allein keinen Krieg und Unfrieden anfange, sondern zum Frieden helfe und  rate, wo immer er kann, auch wenn genug Recht und Ursachen zum Krieg  gegeben wären“.2) 

Man könnte auch schon mal vorausweisen auf die Verse 44-48 in diesem Kapitel, wo mit dem Gebot der Feindesliebe so etwas wie eine nächste Stufe in dieser Verhaltenslogik gezündet wird.

Fragt sich noch, ob hier beim Friedensstiften in erster Linie daran gedacht ist, vermittelnd und versöhnend zwischen zerstrittenen Parteien tätig zu sein, oder ob es eher darum geht, selber mit anderen in Frieden zu leben bzw. sich (wieder) zu versöhnen. Möglicherweise liegt der Akzent hier auf dem Vermitteln, aber das andere ist sicher nicht ausgeschlossen, vgl. Römer 12, 18: “Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen!” Und wer in seinem eigenen Umfeld nicht Frieden sucht, wirkt auch als Friedensstifter zwischen anderen Parteien nicht glaubwürdig.

Die Friedensstifter werden Kinder (wörtlich: Söhne) Gottes heissen bzw. genannt werden. Von wem? – Sicher von Gott selber, der ja seinerseits der Gott des Friedens ist, vgl. z.B. Richter 6, 24; Hebräer 13, 20. Auch der angekündigte Messias wird im Alten Testament an einer bekannten Stelle als “Friedefürst” bezeichnet (Jesaja 9, 5), und bei seinem Kommen stand der Friede wiederum im Zentrum als die himmlischen Heerscharen ihren Jubel erschallen liessen: “Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens.” (Lukas 2, 14)

Wer von höchster Autorität Kind Gottes genannt wird, ist es auch, vgl. 1. Johannes 3, 1: “Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!” Man könnte mit Lloyd-Jones erklären: “…ein Friedensstifter ist ein Kind Gottes, weil er das Wesen seines Vaters widerspiegelt.”3) 

Vielleicht ist es noch hilfreich, darauf hinzuweisen, dass vor dem Hintergrund des Alten Testamentes “Friede” mehr umfasst als nur die Abwesenheit von Krieg oder Streit. Der zugrunde liegende hebräische Begriff “Schalom” umfasst auch Wohlergehen, Glück, ein erfülltes Leben. Friedensstifter haben somit eine schöne, ehrenwerte Aufgabe in dieser Welt.

1) Wengst, a.a.O., S. 49f

2) zitiert bei Wengst, a.a.O., S. 48

3) a.a.O. S. 151

Die Seligpreisungen VI

Matthäus 5, 8

Glücklich zu preisen sind die, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott sehen.

Liest man diese Seligpreisung, bekommt man schnell den Eindruck, dass sie grosse Dimensionen anrührt. Ein reines Herz – das muss doch wohl irgendwie das ganze Leben eines Menschen betreffen. Auch die Verheissung, Gott zu schauen, ist vielleicht Ziel und Wunsch eines gläubigen Menschen,  übersteigt aber auf jeden Fall alles, was wir uns vorstellen können. Lloyd-Jones bezeichnet diesen Vers sogar als einen der grossartigsten, aber auch ernstesten in der ganzen Bibel, als “Herzstück der christlichen Lehre”1) – Warum ist diese Seligpreisung dann nicht stärker herausgehoben bei Matthäus und versteckt sich sozusagen unter all den anderen? – Der Erklärungsversuch von Lloyd-Jones dazu wirkt kompliziert und überzeugt mich nicht wirklich. Eine bessere Antwort habe ich aber auch nicht. Vielleicht findet sich dieser Vers darum eingereiht unter die anderen Seligpreisungen, weil man ihn eben doch nicht zu stark herausheben und ohne die anderen lesen und bedenken sollte. Genauer anschauen wollen wir ihn hier natürlich trotzdem:

Ein reines Herz

In Zeiten, die pandemiebedingt der Reinigung vermehrte Aufmerksamkeit schenken und dafür gleichsam neue Rituale entwickeln, ist es ratsam, auch einmal zu bedenken, was denn ein “reines Herz” bedeuten könnte. Es überrascht vermutlich unterdessen nicht mehr, wenn wir auch hier schnell Bezugspunkte zum Alten Testament, insbesondere den Psalmen, finden. Das Herz bezeichnet nach jüdischem Sprachgebrauch das Zentrum einer Person, den Ort, von dem das Wollen, Denken, Trachten und vielleicht auch Fühlen ausgehen2).

Dieses Zentrum, diese Quelle, aus der unser Leben strömt3), kann nun offensichtlich rein oder eben auch unrein sein. Rein, das heisst: lauter, aufrichtig, geradeaus, zuverlässig, und damit nicht verschlagen, sondern rechtschaffen handelnd4), in ungeteiltem Gehorsam gegenüber Gott ohne Sünde.5) Lloyd-Jones nennt auch noch Stichworte wie: Einfältigkeit (im Sinne einer lauteren, offenen Art), Aufrichtigkeit, Geradlinigkeit im Denken, eine offenherzige Hingabe. Das reine Herz ist ungeteilt, kennt keine Heuchelei.6) Man könnte, etwas weniger abstrakt, auch kurz und bündig sagen: Reinen Herzens sein würde bedeuten, so zu leben, wie es Jesus selber getan hat.

Zur Illustration weiter ein paar konkrete Stellen aus den Psalmen:

Psalm 24, 3-4: “Wer darf hinaufziehen zum Berg des Herrn, wer an seine heilige Stätte treten? Wer reine Hände hat und ein lauteres Herz, wer nicht auf Nichtiges seinen Sinn richtet und nicht falsch schwört.” Da werden ein reines Herz und reine Hände unmittelbar parallel gesetzt. Es geht somit nicht einfach um eine edle Gesinnung, sondern um das damit verbundene konkrete Tun, das sich an den Weisungen Gottes orientiert. Ganz in diese Sinne bittet der Verfasser von Psalm 86, 11b: “Lass eines in meinem Herzen wichtig sein, dass ich deinem Namen mit Ehrfurcht begegne.” (Basisbibel).

Nun ist es aber bei nüchterner Betrachtung besehen doch so, dass das menschliche Herz eben nicht rein ist. Der Dichter des 51. Psalmes bittet deshalb, dass Gott seine Verfehlungen austilge und ihm das reine Herz schenke (Psalm 51, 11-12): “Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden, und tilge alle meine Vergehen. Schaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.”  

Der Weg zu einem reinen Herzen geht demnach über die Bitte um Vergebung, die Bitte, dass Gott selber reinigend eingreife. Lloyd-Jones meint zugespitzt: “Wer sind die reinen Herzens? Im Wesentlichen jene, … die wegen der Unreinheit ihrer Herzen trauern.”7)

Aus biblischer Perspektive wird klar: Aus eigener Bemühung, bei aller frommen “Putzwut”, kriege ich mein Herz selber doch nicht rein. Da muss sozusagen das “himmlische Putzinstitut” in Aktion treten. Gott selber, durch seinen Geist, kann das Werk vollbringen. Dabei ist es aber nicht so, dass ich als Mensch bloss in der Zuschauerrolle bliebe. Es ist ein geheimnisvolles Ineinander, wie es prägnant in Philipper 2, 12-13 formuliert ist: “Wirkt nun weiterhin mit Furcht und Zittern auf eure eigene Rettung hin! Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, zu seinem eigenen Wohlgefallen.”

Für den Reformator Martin Luther hiess das zum Beispiel: “Gott in den Elenden, Irrenden und Mühhseligen suchen”; “da schaut man Gott, da wird das Herz rein und aller Hochmut liegt darnieder.”8)

Gott schauen

Was soll man sich darunter vorstellen? War es nicht sogar einem Gott besonders nahestehenden Mann wie Mose verwehrt, ihn zu sehen? Lediglich Gott hinterher schauen wurde ihm gestattet, vgl. 2. Mose 33, 17-23. Auch im Neuen Testament finden sich Stellen, die bestätigen, dass man Gott nicht sehen kann, z.B. Johannes 1, 18; 6, 46; 1. Timotheus 6, 16. Trotzdem gab es im Judentum die Hoffnung, dass wir am Ende der Zeiten einmal Gott werden sehen können. Auch das Neue Testament vermittelt diese Hoffnung und Erwartung:

“Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt worden bin.” 1. Korinther 13, 12

“Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht zutage getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber, dass wir, wenn es zutage tritt, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.” 1. Johannes 3, 2

“Sie werden sein Angesicht schauen, und auf ihrer Stirn wird sein Name stehen.” Offenbarung 22, 4

Wie man sich das vorzustellen hat, führt die Bibel nicht weiter aus. Wahrscheinlich wären die Mittel unserer Sprache auch zu begrenzt, um diesen Vorgang zu beschreiben. Es lässt sich nur schliessen, dass dieses Schauen mit einer ebenso unbeschreiblichen Freude verbunden sein muss. Alle Entfremdung von Gott muss dann überwunden sein, und die Rätsel unseres Lebens, die uns hier umtreiben, werden gelöst oder nicht mehr relevant sein.

  1. a.a.O., S.127 und S. 130 – Die ganze Auslegung zu diesem Vers ist übrigens sehr lesenswert.
  2. Vgl. Luz, a.a.O., S. 211; Wengst, a.a.O. S. 46
  3. Vgl. Lloyd-Jones, S. 131
  4. Wengst, a.a.O., S. 46f
  5. Luz, a.a.O., S. 211
  6. Lloyd-Jones, a.a.O., S. 133
  7. a.a.O., S. 129
  8. zitiert bei Luz, a.a.O. S. 212

Die Seligpreisungen V

Matthäus 5, 7

Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.

Es kann der zweite Satzteil auch übersetzt werden: “… sie werden Barmherzigkeit erlangen”, oder “… ihrer wird sich erbarmt werden”. Im Griechischen steht eine passive Formulierung, hinter der indirekt Gott als Subjekt steht. Auffällig bei dieser Seligpreisung ist, dass sich Vorder- und Nachsatz genau entsprechen, weil sie das gleiche Verb gebrauchen. Göttliches und menschliches Verhalten sollen sich entsprechen. Entsprechen tut diese Seligpreisung auch der voranstehenden, denn Barmherzigkeit ist nicht einfach ein “frommes Gefühl”, sondern sie zielt darauf ab, Gerechtigkeit zu fördern oder herzustellen.

Sucht man auch hier Anschlüsse an das Alte Testament, könnte man auf Spr. 14, 21 verweisen: “Wer seinem Nächsten Verachtung zeigt, sündigt; aber wohl dem, der sich über die Elenden erbarmt!” Aber auch im Matthäusevangelium ist Barmherzigkeit zentral. Zweimal, in Kapitel 9, 13 und 12, 7 wird Jesus zitiert, der wiederum mit einem Zitat aus Hosea 6, 6 den Vorrang des Erbarmens, vor den Opfern betont, vgl. auch Kapitel 23, 23: Die Opfervorschriften sollen durchaus beachtet werden, aber mehr noch das, was schwerer wiegt: Recht, Barmherzigkeit und Treue (Glauben).

Was ist denn aber konkret unter Barmherzigkeit, barmherzigem Verhalten, zu verstehen? – Lloyd-Jones definiert: “Im Wesentlichen bedeutet demnach Barmherzigkeit Erbarmen, gepaart mit dem Wunsch, einzugreifen.” Weiter: “Wir können Barmherzigkeit aber auch als innere Sympathie uns äusseres Handlen gegen die Not und das Leden anderer beschreiben.”1) Als Veranschaulichung führt der die biblische Mustergeschichte an, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 30-37). Da liegt ein Opfer von Gewalttätern verletzt am Boden, Menschen kommen vorbei, sehen ihn wohl, fühlen vielleicht auch Mitleid, aber unternehmen nichts. Einer aber erweist sich als barmherzig, versorgt den Verwundeten und bringt ihn an einen sicheren Ort und sorgt dafür, dass er weiter gepflegt werden kann. Weitere Werke der Barmherzigkeit schildert z.B. Matthäus 25, 34-36: Hungrige speisen, Fremdlinge aufnehmen, Bedürftige versorgen, Kranke pflegen, Gefangene betreuen – und es entsteht nicht der Eindruck, dass diese Liste abschliessend gemeint ist.

Die Formulierung in Matthäus 5, 7 an sich lässt offen, ob Gottes Erbarmen an erster Stelle steht und dann uns zur Barmherzigkeit bewegt, oder ob wir Barmherzigkeit üben sollen, um damit Gottes Erbarmen über uns zu bewirken. Wenn Lukas 6, 36 uns aber aufruft, barmherzig zu sein, wie unser himmlischer Vater barmherzig ist, so erscheint es logisch, dass Gottes Erbarmen am Anfang steht und wir, hineingenommen in sein Erbarmen, dieses weitergeben.

Aber zu welcher Zeit werden die Barmherzigen denn Barmherzigkeit erlangen? – Bisweilen wird der Nachsatz dieser Seligpreisung auf das Endgericht Gottes bezogen. Das ist sicher nicht falsch. Aber ich denke, dass sie auch ein wechselseitiges Geschehen in der Gegenwart anspricht. Wer sich einer Verfehlung bewusst wird, darf Gott um sein Erbarmen und seine Vergebung bitten – hier und jetzt – , soll dabei aber in gleicher Haltung seinen Mitmenschen begegnen, ebenfalls im Alltag. Man vergleiche dazu das Gleichnis vom Schalksknecht, Matthäus 18, 21-35, oder auch die Bitte im Unser-Vater. “…vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben…” oder das Jesusgebet oder Herzensgebet: “Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.”

1)a.a.O. S. 120

Die Seligpreisungen IV

Matthäus 5, 6

Glücklich zu preisen sind die, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten; denn sie werden satt werden.

Die vierte Seligpreisung lässt nochmals die in den einleitenden Bemerkungen schon angeführte Frage aufkommen, in welchem Verhältnis die Seligpreisungen im Lukas- und Matthäusevangelium zu einander stehen. Bei Lukas lautet der entsprechende Satz nämlich: “Glücklich zu preisen seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr werdet satt werden.” (Lukas 6, 21) Das führt zu der von Wengst exemplarisch entfalteten Vorstellung, wonach bei Lukas die ältere, ursprünglichere Version zu finden sei. Sie richte sich konkret an Menschen, die unter Mangel an Nahrung leiden. Matthäus habe diese Fassung “ethisiert”, das heisst, er habe beim Niederschreiben seines Evangeliums seine damalige Gemeinde vor Augen gehabt. Diese habe aus Menschen bestanden, die zwar in einfachen Verhältnissen lebten, aber nicht direkt an Hunger litten. Deshalb habe Matthäus die Seligpreisung interpretierend ergänzt: “Glücklich zu preisen sind die, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten…”, was dann so zu verstehen sei, dass sie sich engagieren dafür, dass Hungernde satt werden. Diese Anpassung durch Matthäus sei nicht ein zu verurteilender Eingriff in den Text, sondern eine lobenswerte Aktualisierung desselben.1) Gerechtigkeit soll also gemäss dieser Interpretation nicht für sich selbst erwünscht, sondern für andere, Benachteiligte und ungerecht Behandelte, erstrebt werden. Wengst beruft sich dabei auf Traditionen des Almosengebens im Judentum, d.h. Liebeswerke, die auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit abzielen2).

Gerechtigkeit – das scheint auf jeden Fall ein Schlüsselbegriff in der Bergpredigt zu sein. In den Seligpreisungen taucht er in Vers 10 nochmals auf. Wie ist diese Gerechtigkeit aber zu verstehen? – Geht es dabei um ein menschliches Verhalten, eine praktizierte Tugend? Oder ist eher die uns von Gott geschenkte Gerechtigkeit, die uns von der Sünde frei macht, gedacht? – Etwas salopp (und auch vorschnell) formuliert, könnte man das erste als “katholische”, das zweite als “protestantische” Interpretation bezeichnen. Interessant ist allerdings, dass offenbar die meisten alten Kirchenväter und tendentiell auch die ersten Reformatoren diese Seligpreisung im Sinne der ersten Deutung verstanden haben. Erst die zweite Generation der Reformatoren hat die Gerechtigkeit eindeutig als von Gott geschenkte Gabe verstanden. Hungern und dürsten würde dann unsere Sehnsucht nach dieser Gabe bildlich umschreiben. Eine ausführliche und eindrückliche Auslegung auf dieser Linie findet sich bei D. Martyn Lloyd-Jones in seiner Predigt zur Stelle unter dem Titel “Gerechtigkeit und Segen”.3)

Versteht man hingegen die Gerechtigkeit im Sinne eines menschlichen Verhaltens, kann “hungern und dürsten” danach nicht mehr nur eine Sehnsucht umschreiben, sondern muss im Sinne von “sich mühen um” verstanden werden können. Luz weist nach, dass dies möglich ist und er schliesst sich deshalb der altkirchlichen Deutung an.4)  Ich folge ihm darin, denn Stellen wie die folgenden, legen ein aktives Verständnis dieser Gerechtigkeit nahe:
– Bei der Taufe sagt Jesus zum zögernden Johannes: “Lass es jetzt zu! Denn so gehört es sich; so sollen wir alles tun, was die Gerechtigkeit verlangt.” (Matthäus 3, 15)
– In der Bergpredigt, nach den Seligpreisungen, deklariert Jesus: “Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.” (Matthäus 5, 20) Die Ausführungen dazu, wie diese bessere Gerechtigkeit dann aussehen soll, folgen in den Abschnitten danach, die wiederum auf Verhaltensweisen abzielen.

Wichtig ist auch hier wieder der Bezug zum Alten Testament. Von dort her lässt sich prägnant festhalten: “Gerechtigkeit ist das von Gott in seinem Bund seinem Volk gebotene Verhalten”.5)

Susanne Schmid nimmt für das Verständnis dieser Art von Gerechtigkeit unseren Ausdruck “jemandem gerecht werden” zu Hilfe. Sie betont den Aspekt der Beziehung, der in diesem Verständnis von Gerechtigkeit enthalten ist. “Gerecht sein”, bedeutet demnach,  den Ansprüchen des jeweiligen Gemeinschaftsverhältnisses gerecht zu werden.

Ich denke nicht, dass damit ein Sehnen nach der von Gott geschenkten Gerechtigkeit durch Jesus Christus ausgeschlossen ist. Im Gegenteil: Das intensive Fragen nach einer gerechten Welt, das Erwarten der Vollendung der Erlösung, das Verlangen nach Veränderung, auch nach Heil und Heiligung des persönlichen Lebens, all das gehört ja auch zum Leben als Christenmensch. Aber ein nur passives Warten darauf würde nicht zu den Intentionen der Berpredigt passen.

Bei aller Bemühung um die zutreffende Interpretation des Anfanges dieser Seligpreisung soll der Nachsatz nicht vergessen werden: Dieses Mühen um und auch Sehnen nach Gerechtigkeit soll nicht vergeblich sein. Es trägt die Verheissung der Erfüllung in sich. Diese ist allerdings in der Zukunftsform gegeben. Und doch blitzt sie immer wieder auf, insbesondere da, wo Jesus diese Gerechtigkeit aufrichtet und seine Gemeinde in seiner Nachfolge sich daran orientiert.

Bleibt noch die zuerst erwähnte Frage nach dem, was Jesus gesagt und was Lukas oder Matthäus allenfalls daraus gemacht haben. Was ich persönlich nicht glaube: Dass Matthäus willkürlich und eigenmächtig Aussagen von Jesus in seinem Sinne verändert hat. Wenn die Bibel – was ebenfalls meinem Glauben entspricht – Gottes Wort an uns ist, dann hat sein Geist auch darüber gewacht, dass es uns seiner Absicht gemäss erreicht. Wenn man sich die Seligpreisungen als zusammenfassende Thesen aus Reden von Jesus vorstellt, dann könnte es sein, dass er – ganz modern – unterschiedliche “Milieus” mit unterschiedlichem Akzent angesprochen hat, die Bettelarmen anders als die, welche genug zum Leben hatten, und dass Lukas und Matthäus je einen anderen Schwerpunkt festgehalten haben. Mache ich es mir zu einfach damit? – Der Blog gibt Raum zur Reaktion!

1)Wengst, a.a.O., S. 35f      
2)a.a.O.. S. 45
3)Lloyd-Jones, a.a.O., S.89ff
4) Luz, a.a.O, S. 210f  
5) a.a.O, S. 211

Die Seligpreisungen III

Matthäus 5, 5

Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen; denn sie werden die Erde als Besitz erhalten.

Das griechische Wort für “sanftmütig” kann auch mit “freundlich” oder “milde” übersetzt werden. Sanftmütig ist ein Ausdruck, der in unserem Sprachgebrauch fast nicht (mehr) vorkommt. Zu fragen wäre, ob das auch für die dahinter stehende Haltung oder Wesensart gilt. Wie können wir sie genauer beschreiben? – Um ihr näher auf die Spur zu kommen, ist es auch hier hilfreich, die Bezugspunkte zum Alten Testament beizuziehen. Da wäre vor allem Psalm 37, 11 zu nennen, an den direkt angespielt ist: “Aber die Sanftmütigen werden das Land besitzen und werden ihre Lust haben an Fülle von Heil”. So übersetzt die Elberfelder Bibel und verwendet denselben deutschen Begriff wie die oben zitierte Übersetzung der dritten Seligpreisung. Anders jedoch Luther an der gleichen Stelle:“die Elenden”, Zürcher: “die Gebeugten” oder die Gute Nachricht Bibel: “die Armen”. Daraus lässt sich schon schliessen, dass der hebräische Begriff in Psalm 37, 11 vermutlich nicht einfach eine Haltung grosszügiger, gönnerhafter Milde bezeichnet. Und tatsächlich geht es im ganzen Psalm 37 um die Armen, Elenden, Gebeugten, aber auch Gerechten, Getreuen, Aufrichtigen und Friedfertigen, die durchgängig im Gegensatz zu den Frevlern, Abtrünnigen und Gewalttätigen stehen.

Eine zusätzliche Hilfe für das Verständnis dieser Sanftmut sind zwei weitere Vorkommen bei Matthäus, an denen der Begriff auf Jesus selbst bezogen wird. Zuerst die bekannte Stelle aus Matthäus 11,29: “Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig” (Luther). “Sanftmütig” gehört also in die Nähe von “demütig”. Das unterstreicht auch Matthäus 21, 5, wiederum ein Zitat aus dem Alten Testament, im Zusammenhang mit dem Einzug von Jesus in Jerusalem. Da reitet er nicht auf einem prunkvoll herausgeputzten edlen Pferd, auch nicht auf einem eingerüsteten Schlachtross, sondern auf einem Esel in die Stadt ein als Ausdruck seiner Gewaltlosigkeit, seiner Demut und seiner Sendung als Friedenskönig.

Somit können wir unter den “Sanftmütigen” in Matthäus 5,5  Menschen verstehen, die demütig sind, sich dazu freundlich zeigen, oder wie die Gute Nachricht Bibel konkreter umschreibt: “…die unterdrückt sind und auf Gewalt verzichten” also “nicht die sich huldvoll herablassenden Großen, sondern die ohnmächtigen Kleinen: die nicht verbittern”. 1)

Den in dieser Art Sanftmütigen wird verheissen, dass sie “das Land erben” (Zürcher; Elberfelder) oder “die Erde besitzen” werden (diverse andere Übersetzungen). Was gilt nun, Land oder Erde? – Sicher knüpft dieser Nachsatz an die traditionelle Landverheissung für Israel an und hatte für die damals in diesem Land durch die römischen Besatzer Unterdrückten einen besonders hoffnungsvollen Klang. Aber ich denke, diese Landverheissung wird hier “überstiegen”. Das griechische Wort, das verwendet wird, kann sowohl “Land” wie “Erde” bedeuten. In Matthäus 28, 18, am Schluss des Evangeliums, sagt der auferstandene Jesus Christus: “Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden”, d.h. im Blick ist bei ihm nicht mehr nur ein begrenztes Land Israel, sondern die ganze Erde, die neu werden soll. Somit sehe ich die Verheissung dieser Seligpreisung weder nur auf eine begrenzte Gegend, aber auch nicht einfach auf ein jenseitiges Paradies bezogen. Sie hat einen Bezug zu dieser Erde.

Interessant sind dazu die Ausführungen von D. Martyn Lloyd-Jones in seiner Predigt zur dritten Seligpreisung. Er versteht dieses “Land erben” doppelt. Einerseits auf die Gegenwart bezogen, so, dass wahrhaft sanftmütige Menschen immer auch befriedigte, zufriedene Menschen sind und in gewisser Weise diese Erde besitzen, nämlich gemäss der Charakterisierung durch den Apostel Paulus “… als die nichts haben und doch alles haben” (2. Korinther 6, 10). Oder im Sinne von 1. Korinther 3, 21-23: “So rühme sich denn niemand (im Blick auf) Menschen, denn alles ist euer. Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges; alles ist euer,ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.” (Elberfelder Bibel). Daneben sieht Lloyd-Jones in dieser Seligpreisung eine zukünftige Dimension. Sie orientiert sich an der Verheissung, dass Christen als “Kinder Gottes” auch Erben sind. (vgl. z.B. Römer 8, 16-17).2)

1) Wengst, a.a.O., S. 43
2)D. Martyn Lloyd-Jones, Bergpredigt. Ich aber sage euch…, Predigten über Matthäus 5, 3-48; Friedberg, 2002; S. 86f

Die Seligpreisungen II

Matthäus 5, 4

Glücklich zu preisen sind die, die trauern,  denn sie werden getröstet werden.

Fast schockierend tönt die zweite Seligpreisung, wenn man sie ein erstes Mal hört. Ist es nicht zynisch, wenn Jesus meint, die Trauernden seien zu beglückwünschen.? Das widerspricht doch normalem Empfinden völlig. Wie ist das zu erklären?

Die von mir bisher zitierten Fachleute (Schmid, Wengst, Luz) betonen alle die Anklänge dieser Seligpreisung an Texte aus dem Alten Testament, besonders deutlich an Jesaja 61, 1-3:

“Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir. Denn der HERR hat mich gesalbt, um den Elenden frohe Botschaft zu bringen, er hat mich gesandt, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um Freilassung auszurufen für die Gefangenen und Befreiung für die Gefesselten, um ein Jahr des Wohlwollens des HERRN auszurufen und einen Tag der Rache unseres Gottes, um alle Trauernden zu trösten, um dies bereitzustellen für die, die um Zion trauern: um ihnen einen Kopfschmuck zu geben statt Asche, Freudenöl statt Trauer, ein Gewand des Ruhms statt trüben Geists. Dann werden sie Terebinthen-der-Gerechtigkeit genannt werden, Pflanzung-des-HERRN, damit er sich selbst verherrlicht.”

Auch ohne auf die Details des Jesaja-Textes einzugehen, zeigt sich, dass Jesus in den Seligpreisungen sogar wiederholt an diesen Text anspielt. Er hat also nicht sozusagen im luftleeren Raum Theologie getrieben, sondern immer wieder angeknüpft an die Schriften der damaligen “Bibel” bzw. des Alten Testamentes, und sie ausgelegt.

Kann der Rückgriff auf Jesaja helfen, die zweite Seligpreisung im Matthäusevangelium besser zu verstehen? – Susanne Schmid bejaht dies und knüpft bei den Gegensatzpaaren “Kopfschmuck – Asche” sowie “Freudenöl – Trauer(kleid)” im letzten Teil des zitierten Abschnittes an. Insbesondere das Stichwort “Asche” lässt an Menschen denken, die ihr Fehlverhalten bereuen (vgl. die bis heute gebräuchliche sprichwörtliche Wendung “Busse tun in Sack und Asche”). Mit dem Trauern bei Jesaja und dementsprechend in der zweiten Seligpreisung wäre dann also nicht ein Trauerfall oder ein anderes Verlusterlebnis im Blick, wie man zuerst denken könnte, sondern die Betrübtheit eines Menschen über die eigene Sünde. Wer diese schmerzliche Trauer zulasse, dem gelte der Zuspruch von Jesus: Der soll getröstet werden, so Schmid.

Einen anderen Schwerpunkt legt Wengst: Er übersetzt die zweite Seligpreisung so: „Glücklich die Klagenden: Sie werden getröstet werden!“ Das griechische Ausgangswort lässt nämlich sowohl die Übersetzung “klagen” wie “trauern” zu. Wengst betont hier wieder, dass Matthäus in den Seligpreisungen “aktiv zu vollziehende Verhaltensweisen” 1) anspreche (anders Lukas 6, 21:  Selig, die ihr jetzt weint – ihr werdet lachen.) Auch er bezieht sich auf Jesaja 61, betont aber, dass es dort grundsätzlich um die Befreiung der deportierten Israeliten gehe und um jene, die um Zion (Jerusalem) klagen, d.h. die sich nicht mit den gegenwärtigen Verhältnissen abfinden. Ihnen wird eine Wendung zum Guten versprochen. Daraus schliesst er: “Von daher dürften „die Klagenden“ bei Matthäus nicht einfach „die  Traurigen“ oder „Trauernden“ sein, die aus irgendeinem Grund Trauer tragen, schon gar nicht die Resignierten, sondern diejenigen, die über das Unrecht trauern und es beklagen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass  Elend und Unrecht nun einmal zum Leben in der Welt dazugehören würden.”2)

Eine umfassendere Position nimmt Luz ein. Er sieht in Jesaja 61 neben der Trauer um Jerusalem die Trauer in dieser Welt ganz allgemein angesprochen und folgert für den Text bei Matthäus: “Mit ‘Trauer’ ist alle Trauer dieses Äons [dieser Weltzeit, CF] umschlossen, die im kommenden Äon durch Trost abgeklöst sein wird.” 3)

Die zweite Seligpreisung zeigt somit beispielhaft, wie man auch auf der Basis seriöser Textauslegung zu unterschiedlichen Akzentsetzungen bei der Interpretation einer Bibelstelle kommen kann. Wer hat nun aber recht? – Geht es in der zweiten Seligpreisung um das Betrauern der eigenen Sünde, die Abkehr davon und die Bitte um Vergebung, der von Jesus Trost zugesprochen und dann auch Trost gespendet wird? Geht es um das Beklagen der Ungerechtigkeit dieser Welt und den (aktiven) Protest dagegen, dem eine kommende Änderung der Verhältnisse versprochen wird? Oder ist ein Leiden an den unvollkommenen Verhältnissen dieser unserer Welt im Blick, das ein Ende finden soll, wenn Gott sein Reich aufrichtet?  

Ich tendiere zur letztgenannten Deutung. Da hätte dann auch meine/unsere je aktuelle und akute Trauer Platz, aber es müsste uns gleichzeitig bewusst sein, dass es nicht nur diese Trauer gibt, sondern dass sie ein Bestandteil einer umfassenderen Trauer ist, welche diese Welt betrifft und immer wieder prägt, bis Gottes Trost zum Durchbruch kommen wird. Noch ist es nicht soweit. Das Versprechen steht, anders als in der ersten Seligpreisung, im Futur, wird also in der Zukunft eingelöst werden.

1) a.a.O. S. 40   2) a.a.O. S. 41   3) Luz, a.a.O. S. 208

Die Seligpreisungen

Matthäus 5, 3-12

Was meint “selig”?

Obwohl der Ausdruck “selig” heute recht selten gebraucht wird und wenn, dann vorwiegend in religiösem Zusammenhang (der Papst nimmt eine Seligsprechung vor, jemand ist gestorben und wird dann als “selig” bezeichnet, jemand hat ein seliges, verklärtes Lächeln aufgesetzt, etc.), verwende ich die Bezeichnung Seligpreisungen für diesen Abschnitt in der Bergpredigt weiterhin, weil sie so bekannt ist. Das in der Luther- und Zürcherbibel mit “selig” übersetzte griechische Wort kann aber ohne religiöse Färbung auch einfach “glücklich” bedeuten. Dementsprechend findet sich in neueren Bibelübersetzungen die Formulierung: “Glücklich sind, die…” (zum Beispiel die “Hoffnung für alle”-Bibel). Noch passender und im Zusammenhang verständlicher finde ich die Übersetzung der Neuen Genfer Bibel (NGÜ): “Glücklich zu preisen sind die, die…”. Das bedeutet, noch näher an unserem Sprachgebrauch formuliert: “Man kann denen gratulieren, die…”

Die Intention der Seligpreisungen

Worauf liegt der Akzent bei den Seligpreisungen?  

  1. Geht es in erster Linie darum, dass Jesus Menschen in einer bestimmten unvorteilhaften, benachteiligten und bedürftigen Situation (Armen, Traurigen, Erniedrigten…) Gottes Gnade zuspricht?
  2. Oder liegt der Schwerpunkt auf der ethischen Ermahnung? Die Seligpreisungen wären dann so etwas wie ein Tugendkatalog, sogar “Einlassbedingungen ins Reich Gottes”, wie schon postuliert worden ist, vielleicht auch eine vorweggenommene Ausführung der Forderung nach Vollkommenheit, die in 5, 48 zur Sprache kommt?
  3. Oder spiegelt sich in den Seligpreisungen quasi die christliche “Gemeindeordnung” wider? In den ersten vier Seligpreisungen wäre dann die Grundhaltung eines Christenmenschen angesprochen (Demut), in den zweiten vier die Art und Weise, wie man als Christ handeln und andere behandeln soll (barmherzig sein, Frieden stiften…).

Bei der Entscheidung für die eine oder andere Deutung spielt noch eine weitere Fragestellung mit, was die Sache etwas verkompliziert:

Das Verhältnis der Seligpreisungen bei Matthäus zu denen bei Lukas

Im Lukasevangelium, 6, 20-23 finden sich ebenfalls Seligpreisungen ähnlichen Inhaltes wie bei Matthäus. Es sind zahlenmässig weniger (4), und sie sind als direkte Anrede (2. Person Plural) formuliert, wogegen diejenigen bei Matthäus – mit einer Ausnahme – in der 3. Person Plural. Die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Fassungen zu einander stehen, wird natürlich unter Fachleuten intensiv diskutiert. Dabei spielt nicht nur die Frage, ob direkte Anrede oder 3. Person eine Rolle, sondern es sind auch kleine, aber bedeutsame inhaltliche Unterschiede zu beachten. Einer begegnet gleich in der ersten Seligpreisung. Bei Lukas lautet sie: “Selig ihr Armen – euch gehört das Reich Gottes.” (Luk. 6, 20). Bei Matthäus: “Selig die Armen im Geist – ihnen gehört das Himmelreich.”

Eine gängige Theorie besagt nun vereinfacht, dass Jesus die Seligpreisung in der Fassung des Lukas ausgesprochen haben dürfte, während Matthäus dann eine für seine Situation passende Erweiterung des Textes angefügt habe.

Ein Grundproblem dieser und anderer Theorien zur Textüberlieferung liegt darin, dass wir keine Vorformen (Quellen) vorliegen haben, welche solche angeblichen Entwicklungen und redaktionelle Textbearbeitungen belegen, dass wir auch keine allfälligen diesbezüglichen Überlegungen der Evangelisten selber kennen, es sich also letztlich um mehr oder weniger plausible Hypothesen handelt. Man könnte sich ja auch andere Erklärungen vorstellen, etwa, dass Jesus die Seligpreisungen in unterschiedlichen Kontexten verwendet und dabei auch unterschiedlich formuliert hat.

Zu lange möchte ich mich deshalb hier nicht auf diesem Tummelfeld für Spezialisten aufhalten. Trotzdem wird sich der geneigte Bibelleser und die aufmerksame Bibelleserin natürlich die Frage stellen, ob mit den “Armen” bei Lukas und den “Armen im Geist” bei Matthäus die gleiche Personengruppe angesprochen ist und ob damit auch verschiedene Akzente im Sinne der im vorherigen Abschnitt genannten Möglichkeiten angesprochen sind.

Konzentrieren wir uns aber vorerst auf den vorliegenden Text bei Matthäus.

Matthäus 5, 3

Glücklich zu preisen sind die Armen im Geist – ihnen gehört das Himmelreich.

Wer sind denn nun diese “Armen im Geist”, denen man gratulieren kann? – Die Präzisierung “im Geist” deutet an, dass nicht oder nicht nur eine wirtschaftliche Armut gemeint sein kann. Theoretisch könnte mit dem Geist der Geist Gottes gemeint sein, aber das passt nicht gut in den Zusammenhang. Wenn somit der menschliche Geist im Blick ist, könnte man “arm im Geist” deuten als “mutlos” oder “verzweifelt”. Weil das hier verwendete griechische Wort für “arm” Menschen bezeichnet, die so bedürftig sind, dass sie betteln müssen, könnte man auch umfassender unter den “Armen im Geist” diejenigen verstehen, die sich bewusst sind, dass sie als Bettler vor Gott stehen. Viele Ausleger deuten  diese Armut im Geist auch im Sinne einer Geistes-Haltung, d.h. beglückwünscht werden die, welche sich “niedrig im Gemüt” zeigen, sich also demütig verhalten. Vielleicht spielt auch noch ein Aspekt eine Rolle, den Susanne Schmid in ihrer Auslegung betont: Geistlich arm sind die, welche nicht wie gewisse Schriftgelehrte damals (und heute…) bei Gott mit ihrem frommen Lebenswandel punkten wollen.

“…ihnen gehört das Himmelreich.” Himmel ist entsprechend der jüdischen Tradition eine Umschreibung für Gott: Ihnen gehört das Reich Gottes. Formuliert ist das hier im Präsens, während in den nächsten Seligpreisungen der Nachsatz im Futur steht. So wirkt diese erste Seligpreisung fast wie eine Überschrift über die nachfolgenden. Mit dem Kommen von Jesus und mit den Menschen, die sich von ihm berufen lassen, bricht ein Stück des Reiches Gottes schon jetzt an. Noch nicht in Vollendung, aber ansatzweise kann schon ein wenig Himmel auf Erden erlebt werden.

Ist nun dafür das in den Seligpreisungen beschriebene Verhalten eine von uns zu leistende Bedingung? – So direkt kann man das wohl nicht formulieren. In allen Seligpreisungen steht der Glückwunsch und damit die Verheissung voran. Aber sicher ist Wengst recht zu geben, wenn er schreibt: “Indem Matthäus die Beglückwünschten als  solche beschreibt, die jeweils durch eine bestimmte Verhaltensweise, durch  ein bestimmtes Tun gekennzeichnet sind, macht er den in diesem Zuspruch  enthaltenen Anspruch vernehmbar. Ihm gilt es zu entsprechen, damit es zu  konkreten Erfahrungen der Herrschaft Gottes, zu Erfahrungen des Himmelreiches kommt. So gelesen, sind diese Beglückwünschungen kräftige Einladungen, sie in dem in ihnen genannten Verhalten und Tun der Erprobungspraxis auszusetzen.”

1)Wengst, a.a.O., S. 35

Einleitung – Angabe des Settings

Ohne nähere Angaben werden die Bibelstellen aus der Zürcher Bibel zitiert.

Matthäus 5, 1

Als er nun die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. 

Die Einleitung zur Rede von Jesus schliesst an den letzten Abschnitt von Kapitel an (4, 23-24). Dieser bildet mit 9, 35 den Rahmen um die Bergpredigt. In Vers 25 wird erwähnt, dass zahlreiche Menschen aus verschiedenen Gegenden Jesus folgten. Wie viele es genau waren, lässt sich aber heute nicht mehr sagen. Jesus bemerkt diese Menschenmenge – und steigt alsdann auf den Berg. Aus der Formulierung des ersten Versteils wird nicht sofort klar, in welcher Beziehung Jesus zu diesen Leuten steht. Will er sich vor ihnen zurückziehen, um etwas Ruhe zu haben (vgl. 14, 13), oder sucht er einen günstigen Ort, um zu ihnen zu sprechen. Der Abschluss der Bergpredigt (7, 28) zeigt auf jeden Fall, dass Jesus die Menge nicht zurückgelassen hat, sondern dass sie seine Rede hat mitverfolgen können.

Diese Feststellung ist nicht unwichtig, wenn es um die Frage geht, an wen sich die Bergpredigt denn richte. Gilt sie nur den Jüngern, von denen gleich anschliessend berichtet wird, dass sie zu Jesus hinzugetreten seien? Ist die Bergpredigt Jüngerlehre, die in der Folge nur der christlichen Gemeinde gilt und nicht über sie hinaus verallgemeinert werden darf, weil sie alle andern überfordern würde? Ist die Volksmenge nur da, um ein wenig mitzuhören, was Jesus denen zumutet, die ihm nachfolgen wollen?

Oder muss man sich, ausgehend von der geschilderten Anordnung auf jenem Berg, die Zuhörerschaft als “zwei gleichsam konzentrische Hörerkreise” 1) vorstellen: Im inneren, näheren Kreis die Jünger, zuerst angesprochen, aussen das Volk, das aber auch mitgemeint ist, oder wie Klaus Wengst formuliert: “Die  Schüler als die ersten Adressaten, transparent für die Gemeinde, sind diejenigen, die sich der Herrschaft Jesu jetzt schon unterstellen und sich deshalb  an seinem Regierungsprogramm orientieren und es umzusetzen suchen. Aber sie bilden keinen in sich geschlossenen Zirkel. Auch die Volksmengen sind  als Hörende vorgestellt.” 2) Und zu diesen gehört, wenn man gemäss 4, 25 die Herkunft der Menschenmassen analysiert, zumindest andeutungsweise über Israel hinaus die ganze Welt. Mir leuchtet diese zweite Auffassung mehr ein als die erstgenannte. Die Bergpredigt wäre dann so etwas wie ein Fenster, das allen Menschen Einblick gewährt, wie es im Reich Gottes zu und hergeht.

Der Berg, auf dem Jesus seine Rede hielt, wird nicht näher bestimmt. Immerhin heisst es wörtlich im griechischen Text nicht, Jesus sei auf “einen Berg” gestiegen, wie teilweise übersetzt wird [Luther, Gute Nachricht, Neue Genfer Übersetzung (NGÜ)], sondern, auf “den Berg”. Vielleicht wussten die ersten, welche das Matthäusevangelium lasen, noch genau, welcher Berg gemeint war. Heute wird eine Erhebung am Nordende des Sees Genezareth als “Berg der Seligpreisungen” und damit der Bergpredigt angenommen.

Es gibt Ausleger, die mit diesem Berg als Ort der Verkündigung Anspielungen an den Berg Sinai verknüpfen, auf den Mose hinaufgestiegen ist, um von Gott seine Weisungen für das Volk Israel zu empfangen, oder jedenfalls eine Anspielung auf eine enge Verbundenheit des Lehrenden mit Gott. Interessant ist immerhin, dass Matthäus noch eine weitere wichtige Rede von Jesus erwähnt, die dieser auf einem Berg gehalten hat (24, 3), dort ausdrücklich nur für den Jüngerkreis.

An beiden Stellen fällt auf, dass Jesus sich für die Rede setzte und die Jünger zu ihm hintraten und offenbar standen, also gerade umgekehrt zu unseren Gepflogenheiten. Susanne Schmid erklärt mit einem weiteren Verweis (Lukas 4, 20), dass wer damals einen öffentlichen Lehrvortrag hielt, sich dazu immer hingesetzt habe3). Allerdings gibt es durchaus auch Beispiele von Reden, die stehend gehalten wurden (z.B. Apg. 1, 15; 5, 34) Aber mit dem Sitzen an unserer Stelle wird sicher die besondere Würde von Jesus betont. Diese Ehre kam in der Antike Herrschern, Richtern und Lehrern zu – Ämter, die alle auch auf Jesus zutreffen.

Nachdem sich Jesus niedergelassen hat, treten seine Jünger zu ihm. Die Szenerie wirkt auch aus der Ferne noch feierlich, und man ist gespannt, was jetzt wohl geschieht. Doch bevor die Rede beginnt, noch ein paar Gedanken zum Verhältnis von Jesus und diesen ihm nahestehenden, von den meisten Bibelübersetzung als “Jünger” bezeichneten Menschen. Zutreffender wäre wohl der Begriff “Schüler” und entsprechend für Jesus dann “Lehrer”, denn in diesem Verhältnis standen sie zueinander. Diese zwölf von ihm berufenen Männer waren Lernende. Es hat, nebenbei, also durchaus seine Berechtigung, wenn im Chorfenster der Weininger Kirche der lehrende Jesus abgebildet wird. Das Lehren war eine seiner wichtigen Tätigkeiten.

Und nun also fängt er damit an

Matthäus 5, 2

Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie:

Mir scheint es überinterpretiert, wenn man daraus ableiten will, dass Jesus besonders laut und deutlich gesprochen habe, damit alle ihn verstehen konnten. Auch die Interpretation von Susanne Schmid, es sei hier gemeint, dass Jesus seinen Mund aufgetan habe, das heisst, aus eigener Autorität bzw. als Bevollmächtigter von Gott gelehrt habe und nicht wie die Schriftgelehrten nur die Meinung eines ihrer Lehrer wiedergegeben habe, finde ich zu weit hergeholt. Meiner Ansicht nach handelt es sich einfach eine an hebräische Ausdrucksweise angelehnte Wendung für “Er fing an zu reden” (vgl. Hiob 3, 1; Dan. 10, 16)

1)Luz Ulrich, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, 1/1, Das Evangelium nach Matthäus, Zürich/Einsiedeln/Köln, 1985, S. 197
2)Wengst, Klaus. Das Regierungsprogramm des Himmelreichs: Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, S.31. Stuttgart 20192, Kindle-Version.  
3)Schmid-Grether, Susanne. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Kindle-Version.