Matthäus 5, 23-26
23 Wenn du nun deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dort einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, 24 dann lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen und geh, versöhne dich zuerst mit deinem Bruder; dann komm und bring deine Gabe dar.
25 Verständige dich mit deinem Gegner in einem Rechtsstreit unverzüglich, solange du mit ihm unterwegs bist, damit er dich nicht dem Richter übergibt und der Richter dem Gerichtsdiener und man dich ins Gefängnis wirft. 26 Amen, ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Heller bezahlt hast.
Jesus führt zwei Fallbeispiele an, welche die “Antithese” von V.21-22 in gewisser Weise illustrieren. Es geht jetzt allerdings nicht mehr in negativer Redeweise um das Vermeiden von Mord in Wort oder Tat, nicht um Beispiele, wie man sich vor Zorn oder Gewalt schützen kann, sondern mit positiver Blickrichtung um Versöhnung. Die Beispiele setzen also im Prinzip eine schon geschehene Übertretung des vorher genannten verschärften Gebotes voraus.
Das erste Beispiel, V. 23-24, spricht den ungeheuchelten Gottesdienst an. Jemand ist im Begriff, durch den Priester eine Opfergabe auf dem Altar (gedacht ist an den Altar im Tempel zu Jerusalem) darbringen zu lassen. Da wird ihm bewusst, dass einer seiner Mitmenschen etwas gegen ihn hat; wohlbemerkt: Nicht er selber gegen den anderen, sondern der andere gegen ihn, den Opfernden. Dann soll er, so die Aufforderung von Jesus, die Opferzeremonie unterbrechen und sich zuerst mit dem anderen versöhnen. Exegeten wie Wengst und Luz lassen sich über die “praktische Undurchführbarkeit” dieser Forderung aus. Wenn jemand beispielsweise aus dem Tagereisen entfernten Galiläa zum Opfern hergekommen ist, ist es kaum möglich und zumutbar, dass er den weiten weg nochmals hin- und zurückgeht, bis er nur schon sein Opfer bringen kann. So wird deutlich, dass hier eine so genannte “hyperbolische Redeweise”1) vorliegt, also eine übertreibende Schilderung, um einen Sachverhalt zu verdeutlichen. Wengst bringt die Sachlage folgendermassen auf den Punkt: “Das Opfer bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott; das wird zweitrangig, wenn das Verhältnis zwischen Mensch und Mitmensch gestört ist. Man kann und darf nicht Gottesdienst üben und dabei mit seinem konkreten Mitmenschen in Feindschaft leben.”2) Und Rienecker bilanziert: “Solange das Verhältnis zum Bruder nicht ins Reine gebracht ist, solange ist alles Beten und Bibellesen und jeglicher Gottesdienst nicht nur zwecklos, sondern Belastung, Versündigung.”3)
Auch hier greift Jesus alttestamentliche Forderungen auf und spitzt sie zu. Vgl. dazu Psalm 15, 2-4; Psalm 24, 3-4; Hosea 6,6.
Das zweite Beispiel schildert eine Situation vor einer Gerichtsverhandlung. Selbst die letzte Chance, noch auf dem Weg zum Gericht, soll noch genützt und Versöhnung mit dem Prozessgegner gesucht werden. So lässt sich für einen Schuldner Schlimmeres vermeiden, Haftstrafe bis der letzte “Quadrant” – das ist die kleinste römische Münze – bezahlt ist. Auch hier lassen sich Parallelen im Alten Testament finden, vgl. Sprüche 6, 1-5. Interessant ist aber die Auslegung von Luz, der hinter dieser ganz “irdisch-alltäglichen” Situation und dem praktischen Ratschlag sozusagen das kommende Endgericht4) durchschimmern sieht. Unser Alltagsverhalten hat demgemäss immer auch eine Bedeutung vor Gott und soll vor ihm verantwortet werden.
- Wengst, a.a.O., S. 89; vgl. Luz, a.a.O., S. 259
- a.a.O, S. 89
- a.a.O., S. 59
- a.a.O., S. 260