Jesu Stellung zum Gesetz Matthäus 5, 17-20

Vorbemerkungen

“Unsere Verse gehören zu  den schwierigsten im Evangelium.”1) – Huch, wenn das sogar ein namhafter wissenschaftlicher Kommentar zu diesem Abschnitt einräumt, dann wird es wohl so sein… Trotzdem kann man nicht gut darüber hinweglesen, denn diese Verse leiten den Hauptteil der Bergpredigt ein.  Man kann davon ausgehen, dass sie deshalb für Matthäus selber von grosser Bedeutung waren und darlegen wollen, in welchem Sinn man den folgenden Teil verstehen soll. Allerdings deutet eine grosse Bandbreite von Interpretationen an, dass in VV 17-20 tatsächlich manches nicht leicht einzuordnen ist. Ich will im Folgenden versuchen, ein paar Punkte, die mir plausibel erscheinen, festzuhalten.


Matthäus 5, 17

Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Nicht um aufzulösen, bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen.

“Meint nicht…” spricht die Zuhörenden und mit ihnen die Leserschaft direkt an. Es geht dabei nicht um irgend ein Detailproblem, sondern grundsätzlich darum, wie Jesus das “Gesetz und die Propheten” versteht. “Gesetz und Propheten” war ein feststehender, allgemein bekannter Ausdruck für die damals bestehende Bibel bzw. die heiligen Schriften des Judentums. Hinter dem Begriff “Gesetz” (so zumeist die wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen) steht der hebräische Begriff “Torah”. “Gesetz” für “Torah” ist aber einengend, “Weisung”, im Sinne von Wegweisung, Anweisung zu einem gelingenden Leben, wäre eine zutreffendere Übersetzung.

Schwieriger wird es nun, wenn es darum geht, zu bestimmen, was genau mit den beiden Verben “auflösen” und “erfüllen” gemeint ist. Gut nachvollziehbar und an unserer Stelle passend finde ich, wenn man “auflösen” im Sinne von “ausser Kraft setzen” versteht (vgl. Gute Nachricht Bibel; Neue Genfer Übersetzung) und “erfüllen” so, dass Jesus “in seinem Leben durch seinen Gehorsam die Foderungen von Gesetz und Propheten erfüllt, d.h. das Gesetz hält”2) Dies erweist sich in seinem Handeln, in seinem ganzen Verhalten, wozu auch sein Lehren gehört (vgl. nachher die Verse 20-48). In einem weiteren, im Text nicht direkt angesprochenen Sinn, darf man sicher auch darauf hinweisen, dass Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung das Gesetz noch in einer umfassenderen Weise “erfüllt” und zu seinem Ziel gebracht hat. Wie Jesus das Erfüllen im Einzelnen versteht, werden die kommenden Abschnitte zeigen. Der nächste Vers verdeutlicht die Bedeutung des Gesetzes weiter:

  1. Luz a.a.O., S. 230
  2. Luz a.a.O. S. 232, Variante 2b); Wengst, a.a.O. S.  68 legt den Akzent auf “in Geltung setzen”, was m.E. durchaus auch mitschwingt.


Matthäus 5, 18

Denn, amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, soll vom Gesetz nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vergehen, bis alles geschieht.

Die Zürcher Bibel lässt das “Amen” am Anfang des griechischen Textes unübersetzt. Es drückt in der Regel die zustimmende Antwort der Zuhörenden aus. So wird es ja bis heute beim Beten gebraucht. Die Grundbedeutung des hebräischen Wortstammes hat zu tun mit verlässlich, wahr und treu sein. Hier und an anderen Stellen wird das Wort von Jesus selber zur Bekräftigung und Betonung der Wichtigkeit seiner folgenden Aussage verwendet. Die Lutherbibel übersetzt mit dem ein wenig altertümlichen “…wahrlich, ich sage euch…” die Gute Nachricht Bibel umschreibt elegant: “Ich versichere euch…”.

Das Jota im Griechischen oder Jod im Hebräischen ist jeweils der kleinste Buchstabe im Alphabet dieser Sprache in dem Sinne, dass am wenigsten Tinte gebraucht wird, um ihn zu schreiben. Mit den Häkchen (andere übersetzen: Tüpfelchen, Strichlein oder Komma) sind wohl am ehesten Akzente gemeint, die es im Griechischen ähnlich wie im Französischen gibt.

Es ist auch vermutet worden, es könnte sich um Zierstriche handeln die in hebräischen Schriftrollen zum Teil bei bestimmten Buchstaben angebracht worden sind. Aber da diese für die Lektüre und Bedeutung ohne Funktion waren, scheint mir diese Deutung weniger logisch. Mit dem Hinweis auf die einzelnen Buchstaben und Zeichen wird nochmals verdeutlicht, dass die Weisungen Gottes durch Jesus nicht aufgehoben werden, dass sie im Gegenteil bis ins Detail bestehen bleiben “bis Himmel und Erde vergehen”. Das könnte eine bildliche Umschreibung sein für “niemals”, oder es könnte bedeuten, dass das Gesetz bis zum Ende der Welt gültig bleibt. Zusammen mit der nachdoppelnden abschliessenden Wendung “bis alles geschieht”, scheint mir die Erklärung der Wuppertaler Studienbibel am besten zu passen: “Das Gesetz Gottes bleibt bestehen, solange bis der Heilsplan Gottes zu seinem Ziel gekommen ist und bis ein neuer Himmel und eine neue Erde sein werden.”1) Allerdings gilt es zu bedenken, dass in Kapitel 24, 35 Jesus ausdrücklich sagt, dass zwar Himmel und Erde vergehen werden, seine Worte aber nicht. Und diese legen ja u. a. das Gesetz aus. Vielleicht sollte man daher unseren Vers nicht überinterpretieren und ihn im Sinne von Calvin verstehen: „…eher  muß der Himmel einstürzen und das ganze Weltgefüge durcheinandergeworfen werden, bevor die Festigkeit des Gesetzes ins Wanken gerät“2)

  1. Wuppertaler Studienbibel, Fritz Rienecker, Das Evangelium des Matthäus, Wuppertal, 1983, S. 54, Anm. 3
  2.  Zitiert bei Wengst, a.a.O., S. 72

Salz der Erde und Licht der Welt III

Matthäus 5, 15

Auch zündet niemand eine Lampe an und stellt sie dann unter ein Gefäß. Im Gegenteil: Man stellt sie auf den Lampenständer, damit sie allen im Haus Licht gibt.

Wieder sehr bildhaft und einprägsam verdeutlicht Jesus noch einmal die Lichtfunktion derer, die ihm zuhören und vertrauen. Die Stadt auf dem Berg von Vers 14 leuchtet primär für ihre Einwohner, dass ihre Lampen auch denen, die nachts ausserhalb unterwegs sind, leuchten, ist ein damals vermutlich angenehmer Nebeneffekt. Heute spricht man dagegen eher von Lichtverschmutzung. Jedoch der Vergleich mit der Lampe in unserem Vers zielt auf die Absicht. Man zündet abends Lichter an, damit alle im Haus “etwas sehen”. Eine Licht anzünden, damit es Helligkeit verbreitet, ist eine Selbstverständlichkeit, und es würde niemandem einfallen, eine brennende Lampe unter einen Kübel zu stellen. Kerzenlicht oder damals gebräuchliche Öllampen würde man so nicht nur nicht sehen, sie würden auch bald verlöschen. Das in den traditionellen Bibelübersetzungen (Luther, Zürcher) verwendete Wort “Scheffel” bezeichnet ein Massgefäss. Es soll einen Inhalt von ungefähr 8, 75 Liter gehabt haben. Das Licht aber gehört auf einen passenden Ständer, soll damit gut sichtbar sein und so seinen Zweck erfüllen. Es soll allen (!) im Haus leuchten. Es ist demnach nicht nur Leselampe für die eigenen Bedürfnisse.

‘Sein Licht nicht unter den Scheffel stellen’ ist eine noch heute gelegentlich gebrauchte Redewendung für falsche Bescheidenheit. Ist denn gemeint, dass die christliche Gemeinde sich zur Schau stellen solle, nach dem Motto: ‘Tue Gutes und rede darüber?’ – Dass es hier nicht um Selbstdarstellung, nicht um Wichtigtuerei oder sonst eine Form von frommem Narzissmus geht, zeigt der nächste Vers.

Matthäus 5, 16

So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Dieser Vers ist von Bedeutung, weil er hilft, die voranstehenden einzuordnen. Kurz und bündig: Die Christen sind Salz der Erde und Licht der Welt, indem sie ihre guten Werke leuchten lassen.1) Der aufmerksame, aber ein wenig misstrauische Reformierte könnte an dieser Stelle natürlich sofort fragen, ob denn Matthäus “Werkgerechtigkeit” lehre und nicht um die Rechtfertigung aus dem Glauben wisse. Aber um diesen Gegensatz geht es hier nicht. So wie das Licht nur Licht ist, wenn es leuchtet, so ist der Christ nur Christ, wenn er in dem lebt, was ihm zugesprochen ist. Oder wie es Wengst in einer unserer Zeit entsprechenden Interpretation des Lichtes anschaulich ausdrückt: “…  Gemeinde [ist] nur Gemeinde im Vollzug, im Ereignis, in ihren Taten. Jesus hat  seine Schüler sozusagen „unter Strom gesetzt“ und so können sie gar nicht  anders als zu „leuchten“.”2)

Inhaltlich kann man die “guten Taten” recht allgemein fassen und darunter all das verstehen, was in den voranstehenden Seligpreisungen genannt ist und ebenso, was in den Antithesen ab Vers 17 behandelt wird (siehe dort).

Mir scheint, mit diesen guten Taten sollen zwei Ziele verfolgt werden:

  1. ein im besten Sinne missionarisches: Das Licht der Jünger und Jüngerinnen von Jesus soll leuchten vor den Menschen. Zwar steht dieser Satz in einer gewissen Spannung zu Kap. 6, 1 u. 5, mit der wir uns dann dort näher befassen wollen. Aber hier ist doch auffällig, dass nicht an die Verkündigung des  Wortes appelliert wird, sondern dass dem Leben und Wirken der Jesusjünger entscheidende Bedeutung zukommt. Man spricht ja nicht nur durch seine Worte, sondern auch durch sein Tun und lassen, manchmal sogar viel lauter… Das heisst aber gleichzeitig, dass es in der christlichen Gemeinde nie nur um die Predigt des Wortes und damit um die damit Beauftragten (Pfarrpersonen…) gehen kann, sondern dass das Leben und Wirken der ganzen Gemeinde im Blick ist, weil allen in ihr Tätigen Lichtfunktion zukommt.
  2. soll alles Tun des Guten letztlich der Ehre und Verherrlichung Gottes dienen (Soli Deo gloria). Also gerade nicht Zurschaustellung der eigenen frommen Leistung und keine narzisstische Profilierung. Und, was bemerkenswert ist, soll durch die guten Taten der Jünger und Jüngerinnen nicht nur quasi das “interne Lob” der Gemeinde beflügelt werden, sondern sollen alle Menschen, die diese Werke sehen oder davon profitieren, zum Lobpreis Gottes animiert werden. Zum ersten Mal im Matthäusevangelium wird Gott hier übrigens  “Vater im Himmel” genannt. Er ist der, welcher in seiner väterlichen Fürsorge die Gemeinde seines Sohnes leitet und unterstützt in ihrer Salz- und Lichtfunktion und damit im Tun der guten Taten.
  1. vgl. Luz, a.a.O. S. 224
  2.  Wengst, a.a.O. S. 62