Matthäus 5, 7
Glücklich zu preisen sind die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Es kann der zweite Satzteil auch übersetzt werden: “… sie werden Barmherzigkeit erlangen”, oder “… ihrer wird sich erbarmt werden”. Im Griechischen steht eine passive Formulierung, hinter der indirekt Gott als Subjekt steht. Auffällig bei dieser Seligpreisung ist, dass sich Vorder- und Nachsatz genau entsprechen, weil sie das gleiche Verb gebrauchen. Göttliches und menschliches Verhalten sollen sich entsprechen. Entsprechen tut diese Seligpreisung auch der voranstehenden, denn Barmherzigkeit ist nicht einfach ein “frommes Gefühl”, sondern sie zielt darauf ab, Gerechtigkeit zu fördern oder herzustellen.
Sucht man auch hier Anschlüsse an das Alte Testament, könnte man auf Spr. 14, 21 verweisen: “Wer seinem Nächsten Verachtung zeigt, sündigt; aber wohl dem, der sich über die Elenden erbarmt!” Aber auch im Matthäusevangelium ist Barmherzigkeit zentral. Zweimal, in Kapitel 9, 13 und 12, 7 wird Jesus zitiert, der wiederum mit einem Zitat aus Hosea 6, 6 den Vorrang des Erbarmens, vor den Opfern betont, vgl. auch Kapitel 23, 23: Die Opfervorschriften sollen durchaus beachtet werden, aber mehr noch das, was schwerer wiegt: Recht, Barmherzigkeit und Treue (Glauben).
Was ist denn aber konkret unter Barmherzigkeit, barmherzigem Verhalten, zu verstehen? – Lloyd-Jones definiert: “Im Wesentlichen bedeutet demnach Barmherzigkeit Erbarmen, gepaart mit dem Wunsch, einzugreifen.” Weiter: “Wir können Barmherzigkeit aber auch als innere Sympathie uns äusseres Handlen gegen die Not und das Leden anderer beschreiben.”1) Als Veranschaulichung führt der die biblische Mustergeschichte an, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 30-37). Da liegt ein Opfer von Gewalttätern verletzt am Boden, Menschen kommen vorbei, sehen ihn wohl, fühlen vielleicht auch Mitleid, aber unternehmen nichts. Einer aber erweist sich als barmherzig, versorgt den Verwundeten und bringt ihn an einen sicheren Ort und sorgt dafür, dass er weiter gepflegt werden kann. Weitere Werke der Barmherzigkeit schildert z.B. Matthäus 25, 34-36: Hungrige speisen, Fremdlinge aufnehmen, Bedürftige versorgen, Kranke pflegen, Gefangene betreuen – und es entsteht nicht der Eindruck, dass diese Liste abschliessend gemeint ist.
Die Formulierung in Matthäus 5, 7 an sich lässt offen, ob Gottes Erbarmen an erster Stelle steht und dann uns zur Barmherzigkeit bewegt, oder ob wir Barmherzigkeit üben sollen, um damit Gottes Erbarmen über uns zu bewirken. Wenn Lukas 6, 36 uns aber aufruft, barmherzig zu sein, wie unser himmlischer Vater barmherzig ist, so erscheint es logisch, dass Gottes Erbarmen am Anfang steht und wir, hineingenommen in sein Erbarmen, dieses weitergeben.
Aber zu welcher Zeit werden die Barmherzigen denn Barmherzigkeit erlangen? – Bisweilen wird der Nachsatz dieser Seligpreisung auf das Endgericht Gottes bezogen. Das ist sicher nicht falsch. Aber ich denke, dass sie auch ein wechselseitiges Geschehen in der Gegenwart anspricht. Wer sich einer Verfehlung bewusst wird, darf Gott um sein Erbarmen und seine Vergebung bitten – hier und jetzt – , soll dabei aber in gleicher Haltung seinen Mitmenschen begegnen, ebenfalls im Alltag. Man vergleiche dazu das Gleichnis vom Schalksknecht, Matthäus 18, 21-35, oder auch die Bitte im Unser-Vater. “…vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben…” oder das Jesusgebet oder Herzensgebet: “Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.”
1)a.a.O. S. 120