Matthäus 5, 5
Glücklich zu preisen sind die Sanftmütigen; denn sie werden die Erde als Besitz erhalten.
Das griechische Wort für “sanftmütig” kann auch mit “freundlich” oder “milde” übersetzt werden. Sanftmütig ist ein Ausdruck, der in unserem Sprachgebrauch fast nicht (mehr) vorkommt. Zu fragen wäre, ob das auch für die dahinter stehende Haltung oder Wesensart gilt. Wie können wir sie genauer beschreiben? – Um ihr näher auf die Spur zu kommen, ist es auch hier hilfreich, die Bezugspunkte zum Alten Testament beizuziehen. Da wäre vor allem Psalm 37, 11 zu nennen, an den direkt angespielt ist: “Aber die Sanftmütigen werden das Land besitzen und werden ihre Lust haben an Fülle von Heil”. So übersetzt die Elberfelder Bibel und verwendet denselben deutschen Begriff wie die oben zitierte Übersetzung der dritten Seligpreisung. Anders jedoch Luther an der gleichen Stelle:“die Elenden”, Zürcher: “die Gebeugten” oder die Gute Nachricht Bibel: “die Armen”. Daraus lässt sich schon schliessen, dass der hebräische Begriff in Psalm 37, 11 vermutlich nicht einfach eine Haltung grosszügiger, gönnerhafter Milde bezeichnet. Und tatsächlich geht es im ganzen Psalm 37 um die Armen, Elenden, Gebeugten, aber auch Gerechten, Getreuen, Aufrichtigen und Friedfertigen, die durchgängig im Gegensatz zu den Frevlern, Abtrünnigen und Gewalttätigen stehen.
Eine zusätzliche Hilfe für das Verständnis dieser Sanftmut sind zwei weitere Vorkommen bei Matthäus, an denen der Begriff auf Jesus selbst bezogen wird. Zuerst die bekannte Stelle aus Matthäus 11,29: “Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig” (Luther). “Sanftmütig” gehört also in die Nähe von “demütig”. Das unterstreicht auch Matthäus 21, 5, wiederum ein Zitat aus dem Alten Testament, im Zusammenhang mit dem Einzug von Jesus in Jerusalem. Da reitet er nicht auf einem prunkvoll herausgeputzten edlen Pferd, auch nicht auf einem eingerüsteten Schlachtross, sondern auf einem Esel in die Stadt ein als Ausdruck seiner Gewaltlosigkeit, seiner Demut und seiner Sendung als Friedenskönig.
Somit können wir unter den “Sanftmütigen” in Matthäus 5,5 Menschen verstehen, die demütig sind, sich dazu freundlich zeigen, oder wie die Gute Nachricht Bibel konkreter umschreibt: “…die unterdrückt sind und auf Gewalt verzichten” also “nicht die sich huldvoll herablassenden Großen, sondern die ohnmächtigen Kleinen: die nicht verbittern”. 1)
Den in dieser Art Sanftmütigen wird verheissen, dass sie “das Land erben” (Zürcher; Elberfelder) oder “die Erde besitzen” werden (diverse andere Übersetzungen). Was gilt nun, Land oder Erde? – Sicher knüpft dieser Nachsatz an die traditionelle Landverheissung für Israel an und hatte für die damals in diesem Land durch die römischen Besatzer Unterdrückten einen besonders hoffnungsvollen Klang. Aber ich denke, diese Landverheissung wird hier “überstiegen”. Das griechische Wort, das verwendet wird, kann sowohl “Land” wie “Erde” bedeuten. In Matthäus 28, 18, am Schluss des Evangeliums, sagt der auferstandene Jesus Christus: “Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden”, d.h. im Blick ist bei ihm nicht mehr nur ein begrenztes Land Israel, sondern die ganze Erde, die neu werden soll. Somit sehe ich die Verheissung dieser Seligpreisung weder nur auf eine begrenzte Gegend, aber auch nicht einfach auf ein jenseitiges Paradies bezogen. Sie hat einen Bezug zu dieser Erde.
Interessant sind dazu die Ausführungen von D. Martyn Lloyd-Jones in seiner Predigt zur dritten Seligpreisung. Er versteht dieses “Land erben” doppelt. Einerseits auf die Gegenwart bezogen, so, dass wahrhaft sanftmütige Menschen immer auch befriedigte, zufriedene Menschen sind und in gewisser Weise diese Erde besitzen, nämlich gemäss der Charakterisierung durch den Apostel Paulus “… als die nichts haben und doch alles haben” (2. Korinther 6, 10). Oder im Sinne von 1. Korinther 3, 21-23: “So rühme sich denn niemand (im Blick auf) Menschen, denn alles ist euer. Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges; alles ist euer,ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.” (Elberfelder Bibel). Daneben sieht Lloyd-Jones in dieser Seligpreisung eine zukünftige Dimension. Sie orientiert sich an der Verheissung, dass Christen als “Kinder Gottes” auch Erben sind. (vgl. z.B. Römer 8, 16-17).2)
1) Wengst, a.a.O., S. 43
2)D. Martyn Lloyd-Jones, Bergpredigt. Ich aber sage euch…, Predigten über Matthäus 5, 3-48; Friedberg, 2002; S. 86f